Sudabeh MortezaiÖsterreich 2023 / 72 min
Im Iran, wo Körperpolitik und Sexualmoral staatlich reguliert werden, nutzt man sogenannte Zeitehen als Schlupflöcher, die Autonomien verleihen, aber auch Abhängigkeiten schaffen. Mehr als ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung ihres Films wagt sich Sudabeh Mortezai an eine aktualisierte Schnittfassung, die angesichts der aktuellen Revolution neue Bedeutung erfährt und Kontinuitäten – sowohl der Repression als auch des Widerstands – aufzeigt.
Im Büro des Mullahs wartet ein Paar vorfreudig auf seine Dokumente. Es wird aus dem Koran zitiert, das Brautgeld bezahlt, Gratulationen und Süßspeisen verteilt: Die Ehe ist geschlossen. Egal ob für dreißig Minuten oder 99 Jahre, eine sogenannte Zeitehe bietet innerhalb der religiös-patriarchalen und repressiven Körperpolitik des Iran ein Schlupfloch für Liebesbeziehungen, außerehelichen Sex oder Prostitution. Wir sind im Jahr 2008, und im Bazar der Geschlechter werden Autonomien und Abhängigkeiten verhandelt. Entlang der Grenzen des Sag- und Zeigbaren sprechen Männer und Frauen über ihre Beziehungen, Sexualmoral, Handlungsmacht, Missbrauch und Gewalt. Als Im Bazar der Geschlechter 2009 erstmals veröffentlicht wurde, setzte das iranische Regime die Filmemacherin auf die schwarze Liste. Hierzulande wurde der Film als Erfolg gefeiert, Sudabeh Mortezai selbst war mit dem Ergebnis ihrer Arbeit aber nicht zufrieden: „Er war überladen mit Informationen, um eine fremde Materie für den westlichen Blick greifbar zu machen.“ Ein Jahrzehnt später wagt sie sich gemeinsam mit Editorin Julia Drack an eine neue Schnittfassung, die das Fragmentarische zulässt, die Protagonist*innen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt stellt und dem – sich im Angesicht der stattfindenden Revolution aktualisierenden – Widerständigen das letzte Wort erteilt.
(Diagonale - Katalogtext)
Der heutige Iran ist auf vielen Ebenen einen Quantensprung entfernt von der Welt dieses Films. Und doch, beklemmenderweise, scheint so vieles an diesem historischen Bild noch genauso aktuell und brisant. Denn noch immer besteht ein tiefer Riss zwischen großen Teilen der Bevölkerung mit ihrem Wunsch nach Freiheit und Demokratie und einer totalitären Theokratie, die sich mit allen Mitteln an der Macht zu halten versucht. Noch immer müssen sich die Menschen im Iran mit Einfallsreichtum Freiräume innerhalb eines repressiven Systems schaffen, das ihre Freiheiten bis hinein in die Intimsphäre einschränkt. 2009, als die Originalschnittfassung des Films herauskam, erschütterte eine massive Protestwelle infolge der Wahlen den Iran. Der Director’s Cut erscheint jetzt wieder zu einer Zeit großer gesellschaftlicher Umwälzung. Zurzeit findet im Iran eine veritable Revolution statt, die vorwiegend von jungen, unerschrockenen Frauen ausgeht, die sich die jahrzehntelange Repression nicht mehr bieten lassen und dafür ihr Leben riskieren. Ein passender Zeitpunkt, um wieder einen Blick in den Bazar der Geschlechter zu werfen.
(Sudabeh Mortezai)