Wild Tales


Die sechs voneinander unabhängigen Episoden beschäftigen sich allesamt mit den Themen Rache und Vergeltung. Rache ist süß, heißt es, aber in der argentinischen Wutbürger-Eskalation ist Rache tödliches Elixier. Hier bedeutet Rache Flugzeugabsturz, Autoexplosion oder Tod durch Rattengift. Harmlose Überholmanöver auf der einsamen Landstraße steigern sich zu tödlichen Duellen, falsche Strafzettel können Berge der Wut versetzen, eine heimliche Affäre verwandelt ein Hochzeitsfest in eine Eifersuchtshölle. Der erfolgreichste argentinische Film der letzten Jahre braucht einen Vergleich mit amerikanischen Produktionen a la Tarantino oder Coen-Brüder wahrlich nicht zu scheuen. Wo bürokratische Systeme zulasten des Bürgers entgleisen, wo die korrupte Staatsmacht in den Dienst der ohnehin schon Privilegierten tritt, schlägt die Stunde jener, die sich das eben nicht mehr so einfach gefallen lassen…

Joyland


Der Red Lotus-Liebesfilm 2023: Im Herzen der Metropole Lahore – urban und dennoch konservativ – lebt die Familie Rana, nicht arm, aber auch nicht reich, mit dem alten patriarchalen Familienoberhaupt, dem älteren Sohn, dessen schwangerer Frau sowie drei Töchtern und dem jüngsten Sohn Haider mit seiner Frau Mumtaz. Die Familie hofft inständig auf einen männlichen Stammhalter, der die Familientradition fortsetzen ‚kann‘, während Haider heimlich einen Job als Background-Tänzer in einem Erotiktheater annimmt. Dort begegnet er der faszinierenden trans Tänzerin Biba, deren hypnotische Lebendigkeit ihn dahinschmelzen lässt. Langsam und doch plötzlich verstricken sich Haider und Biba in eine Sommerromanze, Biba nimmt allmählich sein Haus in Beschlag und bringt so in Haiders Familie den lang schon schwelenden Konflikt zwischen Begehren und patriarchaler Moral ans Licht. Mit unserem pakistanischer Festivalbeitrag und Kritiker*innenliebling Joyland würden wir nicht zuletzt auch das unbändig produktive unabhängige Filmschaffen auf dem Kontinent – sowie die Vielfalt der Lebensentwürfe und den Kampf für Geschlechtergerechtigkeit, für die dieses Kino mit Verve eintritt.

Leila’s Brothers


Für ihre Performance in Leila’s Brothers verleihen wir Taraneh Alidoosti den RED LOTUS LIFETIME ACHIEVEMENT AWARD 2023. Aufgrund der aktuellen politischen Situation im Iran hat sie beschlossen, nicht zur Verleihung anzureisen, sondern in Teheran zu bleiben, um sich weiter an der Frauenprotestbewegung zu beteiligen.

Mit seinem Opus Magnum Leila’s Brothers ist der iranische Filmemacher Saeed Roustaee bereits zum zweiten Mal in unserem Programm vertreten, 2023 wartet er für uns allerdings mit einem veritablen Drama auf, das großen Familienepen wie Viscontis Il Gattopardo in nichts nachsteht: Mit ihren 40 Jahren hat Leila ihr ganzes bisheriges Leben damit verbracht, sich um ihre Eltern und ihre vier Brüder zu kümmern. Die Familie streitet sich ständig und ist verschuldet, in einem Land, das von internationalen Wirtschaftssanktionen gebeutelt ist. Während ihre Brüder versuchen, über die Runden zu kommen, arbeitet Leila beharrlich an ihrem Plan: Sie will ein Familienunternehmen gründen, das sie alle vor der Armut bewahrt. Dann aber findet Leila heraus, dass ihr Vater Esmail heimlich das einzige wertvolle Familienerbstück verbracht hat. Es entsteht Chaos in der ohnehin fragilen Familiendynamik. Der Gesundheitszustand des Vaters verschlechtert sich und die Handlungen jedes einzelnen Familienmitglieds scheinen die Familie unaufhaltsam Implosion näher zu bringen…

Seven Winters in Teheran


Ein unerbittlicher Film zu einem unerbittlichen Thema. Es geht um nichts weniger als die Todesstrafe – für Reyhaneh Jabbari, eine Frau, die sich, 19 Jahre alt, gewehrt hat gegen eine Vergewaltigung, indem sie dem Mann, der sie im Begriff war anzugreifen, ein Messer in den Rücken gestoßen hat. Dieser Mann ist an den Folgen der Verletzung gestorben. Reyhaneh Jabbari, die sich gewehrt hat, ist dafür im Iran hingerichtet worden. Davor hat sie sieben Jahre im Gefängnis gesessen, ihre Familie hat in der Zeit alles versucht, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken.

Reyhaneh Jabbari hat im Gefängnis andere Frauen unterstützt und ihr Möglichstes versucht, um nicht Opfer zu sein. Zum Teil mit versteckter Kamera gedreht dokumentiert Seven Winters in Teheran diese Geschichte anhand von Interviews mit Reyhaneh Jabbaris Familie, Tonaufnahmen und Rekonstruktionen ihrer Zeit im Gefängnis und im Gericht. Ein Film, der auf der großen Leinwand gezeigt werden muss. Jetzt.

Like & Share


Ein superaktueller Film, der Position bezieht gegen geschlechtsspezifische Gewalt in der analogen und der digitalen Welt. Zugleich ein Feuerwerk an Einfällen und filmischen – oder hier tatsächlich zutreffender – Bewegtbild-Elementen, die wundersam organisch in die Spielfilmhandlung verwoben sind: Lisa und Sarah, siebzehn Jahre alt, gehen in dieselbe Klasse und machen ASMR-Videos („Autonomous Sensory Meridian Response“, the hottest shit these days, we have been told), mit denen sie hoffen, eines Tages Geld zu verdienen. Viel Internet heißt aber auch viele verschiedene Sites, die nicht nur angenehme Erfahrungen bereithalten. Pornos zum Beispiel, von denen unklar ist, wie sie entstanden sind – oder Bekanntschaften mit Typen, die krass daneben sind. Und dann auch noch Gebets-und-Kopftuch-Business, eine Mutter, die nervt, sich unverstanden fühlen, etc. pp. Pubertät im digitalen Zeitalter eben. Allerdings ist Like & Share kein Film ausschließlich für Teenies. Aber auch. Auch sehr.

Let It Ghost


Mit freundlicher Unterstützung des Wirtschafts- und Handelsbüros Hongkong, Berlin

In drei ganz unterschiedlichen Episoden (Achtung: große Empfehlung für Zuschauer*innen mit kurzer bis sehr kurzer Aufmerksamkeitsspanne!) entführt uns die Horrorkomödie Let It Ghost von Jung-Regisseur Wong Hoi in die wilden Geisterwelten der Metropole: es spukt am Filmset, in einem Stundenhotel, das keines ist, in der Shoppingmall – und ja, auch im Kinderzimmer! Selten aber waren die Geister, die gerufen wurden, so reizend und zu Späßen aufgelegt (nein, nein, keine Angst, Let It Ghost ist kein spätpubertärer Gruselfilm!). Und selten lag so klar auf der Hand, dass auch Geister es verdienen, gut behandelt zu werden. Mit der ersten Episode werden wir zudem wie nebenbei mit der Frage konfrontiert, ob Identitätspolitik wirklich immer der beste Leitfaden für eine Rollenbesetzung ist und Alkohol am Steuer nicht doch zu nichts anderem als Leichenbergen führt. Auch Episode zwei und drei haben einiges mehr auf Lager als nur Sexsucht, einen kurzen Anfall schwerer Nostalgie (Shoppingmalls are dying!) und Candys. Das aber schon auch!

A Guilty Conscience


Mit freundlicher Unterstützung des Wirtschafts- und Handelsbüros Hongkong, Berlin

Ein fetter, vor allem aber höchst fesselnder Blockbuster im Gewand eines klassischen Gerichtsdramas (Empire-Perücken inklusive), das Wilders Witness for the Prosecution in puncto suspense in nichts nachsteht. Im Zentrum des Films Andy Lam, Neo-Anwalt in seinen 50ern, der gehofft hatte, im Staatsdienst eine ruhige Kugel zu schieben, aber aufgrund unbotmäßigen Verhaltens gegenüber seinem neuen Vorgesetzten entlassen wurde. Also wieder Anwaltstracht und Gerichtssaal. Dort macht er einen folgenschweren Fehler, der ihn vom Saulus zum Paulus mutieren und einer der einflussreichsten Hongkonger Familien den Kampf ansagen lässt. Wird er es schaffen, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen – und damit der Angeklagten? Spannend wie ein Autorennen (wohlgemerkt: nur im Kino sind sie das!) nehmen sich die Duelle von Verteidigung und Staatsanwaltschaft aus, auch für all jene, die kein Kantonesisch verstehen. Kurzum: Eine der größten Überraschungen in der Honkonger Kino-Saison 2023. Definitely not to be missed!

Vikram


Wie es scheint, haben wir bei Red Lotus einen Hang zu tamilischen Blockbustern. Letztes Jahr hat Maanaadu das Kino gerockt, dieses Jahr legen wir mit Vikram nach: ein wilder Männerfilm mit den coolsten Frauenrollen, die das indische Kino (wenn es das überhaupt gibt) je gesehen hat – und eine Art Sequel zu dem Film gleichen Titels von 1986 (ebenfalls in der Hauptrolle: Kamal Haasan). Eine Mordserie an Polizeibeamten erfordert den Einsatz einer Truppe sehr geheimer Geheimagenten, die Spur führt in die dunkle Welt der lang schon verfolgten großen Drogenbarone. Der titelgebende Vikram war selbst einst Undercover-Agent und ist jetzt auf der Suche nach dem gemeinen Mörder seines Sohnes. Angespornt von der Liebe – für seinen kleinen Enkelsohn, der ein Problem mit lauten Geräuschen hat und deshalb noch weniger als ohnehin mit dem Arbeitsgebiet seines Großvaters in Berührung kommen sollte. Sounds like fun? It is! Hard-boiled cinema Tamil style! Ein Film für alle, die große Schusswaffen, starke bärtige Männer und/oder Ladyz lieben, die in den Martial-Arts-Künsten aber sowas von zuhause sind.

Insiang


Ein furioses Melodrama vom großen Paten des unabhängigen philippinischen Kinos, inszeniert in den Slums von Manila. Der Film erzählt vom Lebens- und Leidensweg der jungen Insiang, die, anfangs von Menschen umgeben, am Ende mutterseelenallein über eine menschenleere Plaza läuft. Für Red Lotus ist das Konzept, das Brocka mit seinen Filmen verfolgte, eine Art Programm, es geht um die Verbindung des Populären mit dem Politischen, gewissermaßen um Entertainment und Revolution. In Insiang ist der rote Faden die Skandalisierung struktureller patriarchaler Gewalt im Familienzusammenhang: Insiang, die anfangs hoffnungsvoll-zufrieden in der Beziehung mit ihrem Verlobten lebt, findet sich durch die Gewalttat des Liebhabers ihrer Mutter mit einem Schlag ‚aus dem Paradies verstoßen‘.

Brocka hat das Kino der großen Gefühle geliebt, wir lieben es auch! Und Brocka hatte so einiges mit RW Fassbinder gemeinsam: beide waren ungemein produktiv, waren schwul und verstanden es, Männlichkeit als (auch) physische Attraktion zu inszenieren. So bricht sich im Verlauf des skizzierten Plots immer wieder eine andere Ebene Bahn, die der gelebten körperlichen Erfahrung, der Slums, der Sexualität, der Arbeit, der Angst.

Your Lovely Smile


Circa 500 der japanischen Filme, die jedes Jahr in die Kinos des Landes kommen, sind so genannte unabhängige Low-Budget-Filme, die in kleinen Lichtspieltheatern, den „mini-shiatā“ (Mini-Theatern), gezeigt werden. Vor der Pandemie kämpften die meisten bereits um ihr Überleben, COVID-19 verschärfte die Situation jedoch dramatisch, insbesondere als die Kinos im April 2020 landesweit für einen Monat geschlossen wurden. Wie auch in vielen anderen Ländern gab es Crowdfunding-Kampagnen und andere Initiativen, die ein wenig Linderung brachten, aber die Zahlen von vor der Pandemie werden nach wie vor kaum erreicht, vor allem außerhalb des Großraums Tokio. Mit seiner dokufiktionalen Crossover-Arbeit Your Lovely Smile hat Lim Kah Wai, zum zweiten Mal mit einem Film bei Red Lotus vertreten, eine herzerwärmende Liebeserklärung an das unabhängige Filmemachen, seine Macher*innen und die Minikinos gedreht, in der Hauptrolle der als Komödiant begnadete Darsteller-Regisseur Watanabe Hirobumi, der von all dem, was er in dem Film darstellt, selbst mehr als ein Lied singen kann. Kommet zuhauf, kauft eine Eintrittskarte und unterstützt so genau das, was wir Kinogeher*innen schließlich alle lieben!

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