Der abschließende Teil von Wang Bings lakonisch monumentaler „Youth“-Trilogie über die jungen Textilarbeiter:innen im chinesischen Zhili funktioniert auch hervorragend als eigenständiger Dokumentarfilm über soziale und wirtschaftliche Ungleichzeitigkeiten im China der (Prä-Covid-)Gegenwart. Mit einigen wenigen Protagonist:innen pendelt „Youth (Homecoming)“ über Jahre hinweg zwischen dem Alltag in Sweatshops und Mietzimmern und seiner alljährlichen Unterbrechung fürs chinesische Neujahrsfest: Die Werkstätten leeren sich, das Kartenspielen nimmt zu, und viele machen sich auf die tagelange Reise ins Heimatdorf. Hochzeiten werden gefeiert, Familienverpflichtungen absolviert, und nicht auf alle wartet danach in derselben Werkstatt wieder ein Arbeitsplatz. Das kleine Filmteam durchmisst Lebensrealitäten mit Handkamera (und diskretem Schnaufen beim Stiegensteigen), zugleich wird der Filmemacher in einigen berührenden Szenen zum Gegenüber für Selbstreflexionen der Arbeiter:innen in ihren Zwanzigern. (Joachim Schätz)
Es gibt kaum einen besseren Ort als ein Warenlager im Nirgendwo, um die Auswirkungen der Online-Shopping-Revolution und die Überschneidung von sozialer und finanzieller Prekarität zu zeigen. In „On Falling“ kämpft die portugiesische Migrantin Aurora irgendwo in Schottland Woche für Woche ums Überleben – und gegen die Einsamkeit. Als „Pickerin“ hetzt sie endlose Regale entlang, während ihre Arbeitsleistung unerbittlich überwacht wird. Als Belohnung für herausragende Leistungen winkt ein Schokoriegel. Ein Schulkind wirft ihr bei einer Betriebsbesichtigung ein Zuckerl hin. Willkommen im Arbeitskäfig der Gig Economy.
Regisseurin Laura Carreira verarbeitet in ihrem Spielfilmdebüt eigene Migrationserfahrungen. Verkörpert wird die Protagonistin von der gleichermaßen zurückhaltenden wie herausragenden Joana Santos. Mit ihrem besonderen Gespür für soziale Fragen ist sie drauf und dran die Nachfolge von Ken Loach als Chronistin der neuen Generation der Arbeiter:innenschaft anzutreten. (Jörg Markowitsch)
Österreichpremiere
Der Discounter-Supermarkt als düstere Utopie des Kapitalismus und des alltäglichen Überlebenskampfs. Kund:innen, die sich um das billigste Angebot prügeln, Obdachlose, die in Abfallcontainern nach Verwertbarem tauchen, und Angestellte, die um Null-Stunden-Verträge ringen müssen. Im Mittelpunkt des Films steht die alleinerziehende Eleni, die als neue Filialleiterin permanentem Druck – sei es von Vorgesetzten, Kolleg:innen und auch der eigenen Mutter – ausgesetzt ist.
Mutig inszeniert kombiniert der Film Stop-Motion-Animation mit Live-Action. Trotz Überlänge bleibt er durchgehend emotional aufgeladen. Die als Puppen gestalteten Alter-Egos der Charaktere beeindrucken ebenso wie die authentischen Schauspielleistungen, die unmittelbar in ihre Welt ziehen. Regisseurin Ami-Ro Sköld verarbeitet ihre eigenen Erfahrungen als Mitarbeiterin in einem Discounter zu einem immersiven, genreübergreifenden Film, in dem ausgerechnet ein Obdachlosencamp Hoffnung auf einen Neubeginn schenkt. (Jörg Markowitsch)
Österreichpremiere
Zwischen Möwenschwärmen und Bulldozern fischen die „Bottlemen“ täglich tonnenweise Plastikflaschen für die Wiederverwertung aus der größten offenen Mülldeponie Europas am Stadtrand von Belgrad. Die Kamera wechselt zwischen staubigen Nahaufnahmen und epischen Panoramen, die das toxische Ausmaß des Ortes zeigen. Schnell wird deutlich, dass das chaotische Treiben in Wirklichkeit einer gewissen Ordnung folgt, die auf Tradition und Hierarchie beruht. Im Mittelpunkt steht der Rom Yanika, der zum Anführer seiner Arbeitstruppe werden will. Kraftvolle, ethnografische Beobachtungen des Arbeitsalltags verbinden sich mit intimen Einblicken in das Leben der Bottlemen in einer heruntergekommenen Roma-Siedlung – fernab jeder Ästhetisierung von Armut. Ein rauer, ungeschönter Blick auf eine toxische Umgebung und eine toxische Männerwelt, der zum aktuellen Zeitzeugnis wird. Mit dem Bau einer Müllverbrennungsanlage sind die Tage der Deponie – und der Bottlemen – gezählt. (Jörg Markowitsch)
Wienpremiere
CLOSING NIGHT RED LOTUS 2025
Tam, überaus disziplinierte Mitarbeiterin in einem großen Hochzeitsstudio, erfährt durch Zufall über eine Life-TV-Sendung, dass Ihr Mann eine Affäre hat. Statt ihn zu konfrontieren, beschließt sie, ihn mithilfe eines mächtigen Zauberrituals zurückzugewinnen. Ihre Tochter Ha dagegen ist des Lebens in Hanoi überdrüssig und sehnt sich nach einer Flucht ins Nirgendwo, Hauptsache weg aus Vietnam. Ein Hausgeist, vielleicht eine Ausgeburt der Zauberrituale, macht sich währenddessen in der Wohnung der Familie breit, er ist nur für die Frauen sichtbar und lauert hinter der rissigen Decke im Wohnzimmer auf sie. Ganz allmählich ergreifen andere Genres von dem sich zunächst so unverfänglich gerierenden Familiendrama Besitz – und von der Familie? Regisseurin Dương Diệu Linh gibt in Interviews gerne an, eine Schwäche für Frauen mittleren Alters zu haben – genauer für den nörgelnden Typ Frau. Wir auch! Have fun!!
Nobar ist eine selbstbewusste junge Frau, sie weiß, was sie will und kämpft mit Entschlossenheit für ihre Ziele, allein, ihre Familie ist arm und sie die einzige, die für ihren Unterhalt sorgen kann. Und die Jobs auf dem Land sind rar. Also erkämpft sie sich einen Platz in der Firma von Rasul, der sich mit Tomatenplantagen und angeschlossener Fabrik zur Weiterverarbeitung der Früchte ein schönes Unternehmen aufgebaut hat, allein, er hat vor einiger Zeit seine geliebte Frau verloren, und von seinen drei Töchtern ist er nur der jüngsten wirklich zugetan, die aber macht sich rar. So verbringt er einsame und oft traurige Tage in seinem Anwesen. Als Nobar plötzlich in seinem Leben auftaucht, verliebt er sich Hals über Kopf in sie – und sie in ihn. Alters-, Klassen- und religiös-moralische Unterschiede scheinen die Beziehung der beiden jedoch zu verunmöglichen. Als Rasuls Töchter Wind von dem Verhältnis bekommen, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Rakhshan Banietemad ist eine Pionierin des neuen Kinos im Iran, wir freuen uns sehr, die Österreichpremiere der restaurierten Fassung dieses Meisterinnenwerks zeigen zu können, mit dem die Regisseurin Mitte der 1990er Jahre auch international reüssierte.
Die Ankunft eines Aliens auf der Hintertreppe eines Büros oder Geschäftslokals, ein kleiner hellgrün-türkiser Wuschel-Kopffüßler, der plötzlich auf dem Geländer sitzt – wir sehen, der ist da hingebeamt worden!. Seiya verbringt dort gerade seine Pause. Er raucht und ruft Leute an, die er nach einem Zufallsprinzip aus seinem Adressbuch auswählt, um ihnen zu sagen: „Ich bin’s, danke!“ Das Alien hört und schaut zu – spricht übrigens fließend Japanisch -, und stellt dann naheliegende, gleichwohl überaus interessante Fragen. Auch eine Zigarette lässt es sich geben. Wie wir im Weiteren allerdings erfahren, ist es gekommen, um die Menschheit auszulöschen, da sie dem Planeten wie dem Universum insgesamt schadet. In einer losen Reihe von kurzen Episoden werden Aliens nach Aliens auf die Erde gebeamt, weil alle nach kurzer Zeit auf der Erde den Glauben daran verlieren, dass es wirklich eine gute Idee ist, die Menschheit auszurotten. Unfassbar, was da alles an grotesken Einfällen und wilden Inszenierungen daherkommt, Rap-Battle mit einem Alien inklusive. Ugana Kenichis Geschenk zum 20. Geburtstag des legendären NYLON JAPAN-Magazins. Danke, danke, danke!!
Von der ersten Einstellung an beherrscht eine beklemmende Enge der Räumlichkeiten das Geschehen, Didi und Amy arbeiten in einem heruntergekommenen Massagesalon im New Yorker Stadtteil Queens, ziemlich schmierige Kundschaft inklusive. Schnell wird klar, dass die chinesischen Migrantinnen hier in völliger Rechtlosigkeit existieren. Die beiden sind Freundinnen, das ist gut, weil im Salon nicht nur gearbeitet, sondern auch gegessen und geschlafen, kurz: gelebt wird. Es sei denn, Didis Lover lädt sie zum Essen in sein Lieblingsrestaurant ein, die beiden sind ein schönes Paar, er ist allerdings in Taiwan noch verheiratet und hat eine Tochter. Dorthin zurück will er aber eigentlich nicht. Am Neujahrsfest verändert plötzlich ein grausames Unglück diese kleine Welt für immer. Bis dahin mühsam im Zaum gehaltene Ängste brechen sich Bahn. Ein leiser Film, der mit eher einsilbigen Dialogen und ganz viel Detailgenauigkeit die gelebte Erfahrung einer migrantischen Community in NYC auf den Punkt bringt. Atemberaubend. (Außerdem ist Lee Kang-sheng als Lover einfach immer eine Wucht!)
Jung-seo verdient sich ihr Geld als Illustratorin und arbeitet parallel an ihrer eigenen Graphic Novel. Hinter ihrem Schreibtisch versinkt sie gerne in ausladende Tagträume, um ihr Graphic Alter Ego so richtig auszuschmücken: It’s feminist vampire time!! Im ‚realen‘ Leben wiederum hat Jung-seo vor, ihren Freund zu heiraten und gewinnt völlig überraschend bei einer Verlosung das Vorkaufsrecht auf eine Wohnung – in Seoul eine Art Lottogewinn. Weil sie das Geld für die Kaution nicht hat, stattet sie – wenn auch widerwillig – zunächst ihrer Mutter, dann auch ihrem Vater einen Besuch ab, der seit der Scheidung keinen Cent Unterhalt für sie bezahlt hat. Doch als sie seine neue Familie näher kennenlernt, geraten all die Selbstverständlichkeiten von braver Heirat und wer wem warum Geld schuldet, heftig ins Wanken: Vielleicht lässt sich die furchtlose Rächerin ihrer Tagträume ja doch in den Alltag mitnehmen? Die titelgebende SILVER APRICOT entwickelt einen ganz speziellen Duft, wenn sie reif ist – und die Vampirin einen unverwechselbaren Gesichtsausdruck, wenn der Entschluss zum Angriff einmal gefasst ist…
LIFETIME ACHIEVEMENT AWARD RED LOTUS 2025
Geschichten darüber, wie das Feuer zu den Menschen kam oder die Menschen lernten, das Feuer für sich zu nutzen, sind so alt wie die Menschheit selbst. Eine Legende, die der Minderheit der Qiang, im Südwesten Chinas beheimatet, zugeschrieben wird, berichtet davon, wie der Affe Ranbiwa, der bei den Menschen aufgewachsen ist, zum Heiligen Berg aufbricht, um das Feuer zu stehlen. An seiner Seite sein teurer Freund, der Wolf Doggie: sie sind ein ungleiches, dennoch völlig unzertrennliches Paar und bestehen gemeinsam die wildesten Abenteuer – (nicht immer gelungene) karnivore Beutezüge inklusive. Nicht nur die mitreißenden Tuschezeichnungen, sondern auch der subversive Humor, mit dem die Erzählung unterlegt ist, macht diese Arbeit zu einem besonderen Vergnügen für Jung, Alt und alle dazwischen. So kann der Film als kongeniale Rückkehr des Shanghai Animation Film Studios gelten, aus dessen Werkstätten seit seiner Gründung 1957 unzählige Animationsfilme mit Kultstatus hervorgegangen sind, allen voran die legendäre Figur des Monkey King in JOURNEY TO THE WEST.